The End: There is such a thing as society!

Die viermonatige Recherche-Reise ist vorüber, Anfang Dezember bin ich ins Ruhrgebiet zurückgekehrt und nach der hektischen Weihnachtszeit ist es nun an der Zeit für ein abschließendes Fazit: England kurz vor dem (wahrscheinlichen) Brexit - ein Land, in dem die Austeritätspolitik deutliche Spuren hinterlassen hat. Dessen Straßen und Quartiere gekennzeichnet sind von fehlgeschlagenen Regierungsprogrammen wie der Housing Market Pathfinder Initiative. Das sich nicht nur politisch tief gespalten zeigt, sondern auch räumlich. Zwischen dem prosperierenden Großraum London und abgehängten Regionen und Städten im Norden.

Dennoch: für die bewusst provokant gewählte These, nach der das Ruhrgebiet von (Nord-)England lernen kann, lassen sich Belege anführen. Da sind zum einen dutzende Sozialunternehmen von Liverpool bis Bristol, in deren Führung junge Menschen Verantwortung für ihren Stadtteil übernehmen und deren Konzepte darauf abzielen, Quartiere zu stärken und neue Begegnungsorte für ein soziales Miteinander zu schaffen. Darüber hinaus werden Arbeitsplätze geschaffen, die auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden zugeschnitten sind. Die Anschubfinanzierung und die Qualifizierung der Führungsteams stammt häufig von privaten Stiftungen. Welches Potenzial könnte sich entfalten, wenn das Ruhrgebiet sich von kritikbehafteten kommunalen Top-Down-Ansätzen wie der Kurzzeit-Schaffung von Kreativquartieren lösen würde und stattdessen versucht, Stadtteile von innen zu stärken? Indem Menschen vor Ort auf sozialunternehmerische Konzepte aufmerksam gemacht und herangeführt, Empowerment-Strategien erarbeitet werden?  Kitty´s Launderette sei hier als  Beispiel genannt - initiiert von Künstler*innen, die mit viel Liebe für Details in die Rolle von Sozialunternehmer*innen hineinwachsen. Oder Homebaked, die genossenschaftliche Bäckerei, ein Leuchtturm-Projekt mit landesweiter Signalwirkung,  dessen hervorragende Pies mittlerweile in den Liverpooler Fußball-Logen serviert werden. 

 

Da sind zum anderen die ehemaligen Industriestädte wie Manchester, Liverpool und Sheffield, in denen es gelungen ist, attraktive Ausgehviertel auf ehemaligen Industriearealen zu kreieren - mit einem Mix an inhabergeführten Restaurants, Food-Halls und Pubs statt großer Restaurant-Ketten, eingebettet in Industriearchitektur. Die Viertel ziehen ein junges und kreatives Publikum aus dem ganzen Land an und haben das Image der Städte verändert. Im Ruhrgebiet fehlen solche Viertel mit urbanem Flair. Ganz davon abgesehen, dass es in unserer Region auffällig häufig schon daran scheitert, die Bedeutung von Subkultur und Institutionen wie soziokulturellen Zentren zu erkennen - dabei ist hinlänglich bekannt, dass weiche Standortfaktoren im Kampf um den Verbleib von jungen Menschen und die Ansiedlung von arbeitgebenden Großunternehmen von Bedeutung sind. 

 

Beeindruckend und inspirierend fand ich immer wieder, mit welchem langen Atem und mit wie viel Herzblut Aktivist*innen ihre Interessen gegenüber Investor*innen vertreten, kooperieren und den Ausverkauf ihrer Quartiere verhindern - in vielen Fällen erfolgreich. Wie in Hull, wo Gebäudebesitzer*innen erkannt haben, das es durchaus für beide Parteien Sinn macht, in den unteren Etagen auf den maximalen Profit zu verzichten. Oder wie in Liverpool, wo Tristan Brady-Jacobs vor einigen Wochen die Genehmigung erhalten hat,  eine Grünfläche im Baltic Triangle mithilfe von Schiffscontainern künstlerisch zu bespielen und die ersten Zuschüsse hierzu von Großunternehmen eingeworben sind. Tristans Methode zu alternativem Quartiers-Mapping hat sich darüber hinaus im Hinterkopf festgesetzt. 

 

Weg von Kunst und Kultur, hin zu Fußball als Katalysator von Stadtentwicklungsprozessen. Wobei das eine das andere nicht ausschließt, wie wiederum Hull beweist. Städte wie Manchester und Liverpool leben auch durch  Fußball als Subkultur. Nicht nur auf erstklassiger Ebene, sondern auch kleinräumig und niederklassig. Vom Vorzeige-Grassroot-Club FC United of Manchester bis hin zu kleinen Stadtteilclubs. Fußballvereine, groß oder klein, sollte in einer Region wie dem Ruhrgebiet von städtischer Seite her die größtmögliche Unterstützung zukommen. Vertreter*innen der Clubs müssen expliziert adressiert und gehört werden bei Dialogprozessen zu Stadtteilerneuerungen. Für die beiden großen Reviervereine wiederum könnte es sich durchaus lohnen, die Stiftungsarbeit des FC Everton im Blick zu haben, die aufgrund ihrer Effektivität weltweit Schlagzeilen macht und sich so auch positiv auf das Image des Clubs auswirkt. Als irritierend empfinde ich nach wie vor, dass Fußball keine explizite Rolle bei der Vermarktung unserer Region einnimmt - die neue Marketingstrategie der Metropole enthält zum Beispiel Zahlen, Daten und Fakten zu Zielgruppen und Themen. Wie viele Tourist*innen letztlich im Ruhrgebiet übernachten, weil sie ein Fußballspiel besuchen, wird allerdings gar nicht erst erhoben - in der empirischen Datenerhebung wird lediglich mit einer Kategorie gearbeitet, die 'Besuch von Events/Veranstaltungen' lautet. 

 

Weitere Randbemerkungen: im englischen Fußball läuft ganz gewiss viel falsch, aber in einem Punkt ist man dort um Längen weiter: Frauen-Fußball. Jeder hochrangige Club hat Frauen- und Mädchenmannschaften. Auch in den unteren Ligen leisten sich viele Vereine Damenmannschaften - was man vom FC Schalke und der schwarzgelben Konkurrenz leider noch immer nicht behaupten kann und was unter anderem für Kopfschütteln im Gespräch mit (männlichen) Fans des FC Millwall gesorgt hat. Auf solche Gespräche bei einem Club, dessen Fanszene noch vor wenigen Jahren ein  absolut zweifelhaftes Image hatte, war ich nun wirklich nicht vorbereitet. Genauso wenig darauf, dass sich Vereine landauf, landab der Kampagne End Period Poverty angeschlossen haben. Direkte Unterstützung, die gleichzeitig ein Statement gegen Sexismus in Stadien setzt. 

  

Für mich entdeckt habe ich das Centre for Local Economic Strategies als Institution mit einer Vielzahl an interessanten Studien und Themen rund um alternative Wirtschaftsmodelle und deren Verankerung im Stadtraum - ein 'Think and Do Thank', dessen Ideen sogar bei städtischen Wirtschaftsförderungen Gehör finden, wie die Zusammensetzung von Tagungs-Publikum mehr als einmal bewies. Außerdem wurde mein Interesse für gendergerechte Stadtplanung geweckt. Eine Londoner Landschaftsarchitektin und ein Institutsleiter der University of Manchester hatten aus dem Stehgreif so viele Lektürehinweise hierzu, dass ich noch eine ganze Weile mit dem Lesen beschäftigt sein werde. 

 

Zur Herzensstadt hat sich Liverpool entwickelt, über das es noch so viel mehr zu erzählen gäbe. Zum Beispiel, dass dort seit 30 Jahren die Boulevard-Zeitung Sun boykottiert wird. Oder das die Fans der rivalisierenden großen Clubs sich zusammengeschlossen haben, um Lebensmittelsammlungen zu organisieren - it´s not charity, it´s solidarity. Das Graffiti aus dem obigen Bildmotiv als Abwandlung des berühmten Thatcher-Zitats stammt aus einem Park in Liverpool-Everton und steht für mich für die sehr spezielle DNA und Stimmung im Fußball, genauso wie in der Kultur- und Sozialunternehmerszene - auch in Zeiten des Brexits.

 

Ich bin der Hans Weisser Stiftung dankbar dafür, nach dem Ende des Studiums noch einmal eine Art Auslandssemester erlebt haben zu dürfen - denn natürlich lebte die Reise nicht nur von den fachlichen Inhalten, die sich hier auf dem Blog widerspiegeln, sondern auch vom Alltag, Pubbesuchen, Zufällen und Anekdoten. So war mir gar nicht bewusst, wie wichtig der Begriff "Klasse" in der englischen Gesellschaft noch ist. Es verging kaum kein Tag, ohne das Gesprächspartner*innen sich - mit Stolz - der Working Class zugeordnet und über die definitorischen Feinheiten in der Abgrenzung zur Middle Class gesprochen haben. Dagegen schäme mich immer noch für die Momente, in denen ich in Gedanken war, den Linksverkehr ignoriert und mich ans falsche Ende der Warteschlange an der Bushaltestelle gestellt habe. Geduldiges Schlange stehen statt Drängeln und Höflichkeit gehören noch immer zum britischen Selbstverständnis, genauso wie ein freundliches "Dankeschön" in Richtung Fahrer beim Verlassen des Busses - ein angenehmes, alltägliches Detail. Dankbar bin ich auch den Interviewpartner*innen - dass sich so viele Personen Zeit genommen haben, um ohne Gegenleistung Einblicke in ihre Arbeit zu geben und ihre Ideen zu teilen, ist schließlich keine Selbstverständlichkeit. 

 

A propos ÖPNV: Wer die Privatisierung von öffentlicher Infrastruktur befürwortet, möge bitte dringend eine Zugreise durch England antreten - dagegen erscheint die Situation im deutschen Fernverkehr geradezu paradiesisch. Gleichzeitig fällt es mir auch Wochen nach der Rückkehr noch schwer, mich daran zu gewöhnen, dass nach 20 Uhr in sämtlichen Ruhrgebietsstädten kaum mehr eine Bahn fährt, während man in Manchester, Liverpool und Co. zumindest innerstädtisch auch wesentlich später noch bequem nach Hause kommt - ein altbekanntes Thema, bei dem sämtliche Analysen auf dem Tisch liegen. Hallo, Stillstand. 

 

Zu guter Letzt ein Dankeschön für die freundlichen Rückmeldungen von Ihnen und Euch als Leser*innen. Mir hat es  Spaß gemacht, Begegnungen und Erkenntnisse über diese Website zusammenzufassen, die noch bis Mitte 2020 erreichbar sein wird. Ich freue mich auf große und kleinen Projekte, die jetzt wieder im Ruhrgebiet anstehen und in denen hoffentlich auf das frischen Reise-Wissen zurückgegriffen werden kann. Für Fragen und Anmerkungen stehe ich gerne weiterhin zur Verfügung.