#morethanapie: Homebaked

Homebaked im Liverpooler Norden, genau der Grenze zwischen Everton und Anfield: keine einfache Bäckerei, sondern ein Katalysator für die Entwicklung Nord-Liverpools. Treffpunkt und "Safe space" (der am häufigsten genutzte Begriff, wenn Sozialunternehmer*innen in Nordengland über ihr Business referieren)  in einem Stadtteil, der sich trotz eines groß angelegten Top-Down-Masterplans nicht "regenerieren" ließ. Nicht nur, dass ich im August rund ein dutzend Mal dort war, um die besten Scones und Pies Nordenglands zu essen - natürlich eine rein subjektive Meinung, aber eine, der dutzende Testmahlzeiten zu Grunde liegen - um zu erfahren, wie es den Macher*innen in den vergangenen Jahren ergangen ist und was die Zukunft bringt. Auch Anfang Oktober und Mitte November ging es noch einmal zurück - für eine Vernissage mit Gänsehaut-Gefühl und ein Geburtstagsfrühstück an dem Ort, der als Fallbeispiel für meine Masterarbeit zu Fußball und Stadtentwicklung diente (mehr zur Genese hier). 

 

Noch einmal in aller Kürze zusammengefasst: Künstler*innen besetzten eine Bäckerei im Familienbesitz, die aufgrund der Abwärtsspirale des Stadtteils kurz vor der Schließung stand, dem Gebäude drohte zudem der Abriss im Rahmen von Zwangsenteignungen zur Regeneration des Stadtteils. Mehr und mehr Anwohner*innen fanden sich über Wochen hinweg in dem Laden gegenüber des Stadions des Liverpooler FC zusammen, um über Geschehnisse zu diskutieren, als der Wunsch aufkam, die Bäckerei wieder zu beleben. 

 

Heute arbeiten 20 Personen für Homebaked - mit Teilzeitmodellen, die individuell auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Mitarbeitenden zugeschnitten sind. Die wiederum darüber hinaus fast alle im direkten Umfeld der Bäckerei leben und entsprechend geschult werden - ob in der Herstellung von Pies oder im Verkauf. Homebaked hat mehrfach Auszeichnungen für die Qualität der Ware erhalten, was zu landesweiter Aufmerksamkeit geführt hat. More than a pie, so lautet der Hashtag, der für Posts rund um Anfield in sozialen Netzwerken verwendet wird. Aber auch: buy local, buy social. Denn ob in Liverpool, Bristol oder Manchester: das Bewusstsein für die Unterstützung lokaler Unternehmen und unabhängiger Gastronomen scheint zu steigen. 

 

Die Macherinnen von Homebaked präsentierten jüngst zum Social Enterprise-Day  Fakten: Demnach werden 220.000 Pfund jährlich an Gehältern ausgezahlt. 160.000 Pfund fließen darüber hinaus an die ausschließlich lokal verankerten Lieferanten, die so wiederum wachsen können. Dieser lokale Ansatz ist den Macher*innen enorm wichtig - gerade werden Fahrer*innen zur Auslieferung und Handwerker*innen für Umbauten gesucht. Im Anforderungskatalog: aus dem Umkreis stammend. 30 Freiwillige unterstützen Homebaked, z.B. an Matchdays, an denen die Schlange vor dem Laden schon einmal quer über die Straße reicht und beim Verkauf an Wochenmärkten. 5000 Pfund fließen jährlich in Aufwandsentschädigungen und die Essensversorgung der Volunteers. Es bestehen über 20 Partnerschaften zu lokalen Organisationen, die mit Essen, Unterstützung und Trainings (zb. Backkursen für Kinder) unterstützt werden. Über 1000 Pies verlassen pro Woche den Laden, der  wirklich zu jeder Tageszeit voll von Menschen ist - ob Angestellte des LFC in der Mittagspause oder Anwohner*innen beim Frühstück.

 

Die Erfolgsgeschichte der kooperativen Bäckerei ist ungebrochen und setzt sich fort: vor wenigen Wochen ist Homebaked in einem landesweiten Wettbewerb als Gewinner in der Kategorie "Transformatives Community Business 2019" ausgezeichnet worden. Schon längst beschränken sich die Aktivitäten nicht mehr auf die Bäckerei - 2012 wurde ein Community Land Trust gegründet, "as a way of collectively confronting the challenging issues of economic decline and housing demolition facing our neighbourhood and our city. Homebaked is one of the first urban CLTs in the UK and distinctive in being about more than just housing", wie es in der Selbstbeschreibung heißt.  Der gesamte Häuserblock neben der Bäckerei gehört inzwischen dem Land Trust. Mit Anwohner*innen zusammen wurden Ausbau geplant und energetisch sinnvolle Konzepte entwickelt, bunte Schilder an den noch vernagelten Häusern weisen darauf hin, was kurz vor der Realisierung steht: der Umbau der viktorianischen Häuser. Oben entsteht günstiger Wohnraum, in der unteren Etage Platz für Handwerker*innen oder unabhängige Shops - Homegrown, ein lokales,  weibliches Brauerei-Kollektiv, hat sich bereits eine Einheit gesichert. 

 

Das alles ist nicht von heute auf morgen entstanden und wäre vor allem nicht möglich gewesen, wenn sich nicht ein Team von Enthusiast*innen über Jahre hinweg eingesetzt und Visionen entwickelt hätte - in einem Stadtteil, der laut Statistiken zu den ärmsten des Landes zählt. Im Gespräch mit dem Team wird früher oder später deutlich, wie ermüdend und zermürbend vor allem die Arbeit mit Behörden war, wie viele Rückschläge und Verzögerungen verkraftet werden mussten. In diesem Kontext im Gedächtnis geblieben ist mir eine Unterhaltung mit Teammitglied Brit Jurgenson, die darauf hinweist, dass unterschiedliche Fähigkeiten innerhalb des Teams beim Aufbau eines Sozialunternehmens von immenser Bedeutung sind. Insbesondere in Bezug auf Fundraising. Außerdem zähle der Wille zu "thinking out of the box". Und: The concept of being political. Die bewusste Entscheidung, die eigene berufliche Laufbahn mit Blick auf Sinn statt Fokus auf Profit auszurichten. Durchsetzungskraft und diplomatisches Geschick seien ebenfalls wichtige Eigenschaften - es muss die eine Person im Team geben, die es z.B. schafft, diplomatisch zu bleiben, wenn die beiden benachbarten Premier League Clubs die Einkaufspreise beim Bezug von Ware von Homebaked drücken wollen.

 

Für einige Wochen ist vor Kurzem die Dead Pidgeon Gallery in eines der neu zu belebenden Häuser neben Homebaked eingezogen. Ausgestellt haben Brit und andere - beindruckende Videos und Installationen, die sich mit der Genese von Homebaked und der Zerstörung von Identität durch den Abrisss tausender Häuser in Anfield und Everton befassten. 

 

Wer Liverpool besucht, sollte unbedingt die touristische Innenstadt hinter sich lassen und auf einen Pie mit Mash und Grave (auch vegetarisch/vegan), Scones und hervorragenden Kaffee bei Homebaked vorbeischauen, um zu verstehen, was diesen Ort und dieses Business so besonders macht. 

 

Mehr Informationen: 'This is not about gentrification: the pie shop reviving an Anfield street.