Das Anfield-Projekt: Der Bezugsrahmen (Teil I)

Die Idee zur Recherchereise durch England basiert auf einem Zufall. So war ich bereits im Jahr 2016 als Teilnehmerin der Urban School Ruhr, einem Projekt von Urbane Künste Ruhr und Raumlabor Berlin, in Liverpool und durfte Homebaked kennenlernen. Die Community-Bakery, die in so gut wie allen Gesprächen als Leuchtturm- und Schlüsselprojekt bezeichnet wird. Deren Genese wiederum ist maßgeblich an das 'Anfield Project' geknüpft, einem Bauprojekt, für das sich Stadt, Liverpooler FC und Investoren zusammengeschlossen haben, als Teil des Housing Market Renewal Programms (HMRP) der britischen Regierung. Dabei handelt es sich um ein überaus kontrovers diskutiertes Förderprogramm, das den Wohnungsmarkt in nord- und mittelenglischen Städten stärken sollte. Der Plan bestand darin, ganze Straßenzüge mit als mangelhaft identifizierter Bausubstanz abzureißen und durch Neubauten aufzuwerten.

 

Auf der Hand liegen dabei die sozialen Folgen: Nachbarschaften wurden durch Umsiedlungen auseinandergerissen. Damals besichtigen wir einen zerrütteten Stadtteil mit komplett oder teilweise leergezogenen Straßenzügen. Verbliebene Bewohner*innen protestierten gegen das Programm. Über ein Jahr später, mit der Beginn der Masterarbeit, kamen Bilder und Kontext wieder hoch und ich bettete die Entwicklung in Anfield als Fallbeispiel in die Masterarbeit zu Fußball und Stadtentwicklung ein - mit Verweis darauf, dass das Projekt erst Ende 2019 abgeschlossen werden soll und daher noch keine Aussagen zu den langfristigen Folgen getroffen werden können. Von Deutschland aus war es grundsätzlich schwer, Details und Meinungen so intensiv zu erfassen, wie ich es gerne getan hatte. Der Wunsch, zu verstehen, was da in England passiert ist, bestand aber weiterhin.

 

Mein Monat in Liverpool neigt sich jetzt dem Ende zu und ich glaube, dass ich jahrzehntelangen Prozess jetzt nachvollziehen konnte - als Negativbeispiel für Stadtplanung und Quartierentwicklung mit vielen Facetten, bei dem das entstandene zivilgesellschaftliche Engagement als einzig positiver Faktor heraussticht. Wichtig finde ich dabei, die negative Rolle des Liverpooler FC zu betonen. Stadionneu- und umbauten sind auch in vielen deutschen Städten ein emotional behaftetes Thema und hier ist einer der schillerndsten Namen im internationalen Fußball seiner sozialen Verantwortung schlichtweg nicht gerecht geworden. 

 

Als Auszug aus der Abschlussarbeit aus dem Jahr 2017/2018 als Bezugsrahmen, der mit einem zweiten Teil in den kommenden Tagen um die aktuellen Erfahrungen vor Ort ergänzt werden soll: 

 

Über das großmaßstäbliche „Anfield-Project“ soll unter anderem durch den Abriss und Neubau von insgesamt 1.800 Wohn- und Geschäftseinheiten der im nördlichen Liverpool gelegene Stadtteil Anfield städtebaulich und ökonomisch aufgewertet werden. Zusammengeschlossen zur Durchführung des Anfield-Projects haben sich der Rat der Stadt, der Verein FC Liverpool und die Your Housing Group. Im Jahr 2018 ist mit Keepmoat Homes ein weiterer Investor dazu gestoßen. Die Einbeziehung des Fußballvereins ist dabei vor dem Hintergrund räumlicher Expansionspläne zu bewerten. So hatte der mit Stadion und Vereinsgelände im Stadtteil ansässige FC Liverpool ursprünglich bereits in den 1990er-Jahren den Beschluss gefasst, eine räumliche Expansion anzustreben.

 

Die gemeinsamen Investitionskosten des Anfield-Projects, dessen bauliche Maßnahmen sich im vierten und letzten Bauabschnitt befinden, werden auf 260 Millionen Pfund beziffert. Entstehen sollen bis zum Jahr 2019 insgesamt 1000 neue Wohngebäude, ein Hotel mit 150 Betten und ein neuer Quartiersplatz in unmittelbarer Nähe des Stadions des Liverpooler FC. Zudem wird parallel dazu der an das Stadion grenzende, historische Landschaftspark Stanley Park modernisiert. Insbesondere die Aufenthaltsqualität der Walton Breck Road, die unmittelbar am Stadion entlangführt, soll steigen, durch das aufgewertete Umfeld dann weitere Unternehmer und Investoren für den Standort Anfield gewonnen werden.

 

Zum Zeitpunkt des Projektstarts wurde Anfield seitens der Landesregierung als einer der schwächsten Stadtteile des Landes eingestuft – bezogen sowohl auf die Entwicklung der Immobilien-Preise und die Bausubstanz der Häuser, als auch auf sozialstatistische Kennzahlen. Gleichzeitig aber verfügt der Name aufgrund des internationalen Auftretens des FC Liverpool über einen hohen Bekanntheitsgrad, der im Kontext des Projektes das Standortmarketing prägt. So wird auf Fußball als Ressource für die Erneuerung bereits in der Projektbeschreibung Bezug genommen:

This is Anfield – one of the most famous neighbourhoods in the world. It is a neighborhood which is being reborn through a regeneration framework which includes unique opportunities for retail, leisure and hospitality operators. Building on the major transformation which has taken place, a new High Street, right next to Liverpool Football Club’s world-famous stadium, is being developed along an enhanced, pedestrian-friendly streetscape and new, high quality public realm. (Anfield Project 2018)

 

Auch in zu Zwecken der Wirtschaftsförderung, der Öffentlichkeitsarbeit und des Marketings eingesetzten Broschüren wird explizit auf Fußball und Verein als Ressource zur Regeneration des Stadtteils Bezug genommen. Trotz dieses aktiven Standortmarketings und mehrerer städtischer Planungswerkstätten zur Einbindung der Anwohner steht das Anfield-Project bereits seit seinen Anfängen stark in der Kritik. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und werden hier detailliert diskutiert, da sich aus ihnen Hinweise und Schlüsse für den Umgang mit städtebaulichen Aufwertungsmaßnahmen ablesen lassen.

 

Zum einen wird dem FC Liverpool Intransparenz in Bezug auf seine eingangs bereit angeführten räumlichen Expansions-Pläne vorgeworfen. So titelte die britische Tageszeitung The Guardian: „Anfield: the victims, the anger and Liverpool ́s shameful truth“. In dem Artikel wird durch Anwohner Anfields das Agieren des Vereins deutlich kritisiert. Erhoben wird der Vorwurf, dass der Ankauf erster Häuser Mitte der 1990er-Jahre rund um das Stadiongelände bewusst durch eine Agentur abgewickelt wurde. Die Verkäufer seien dabei, um das Preisniveau niedrig zu halten, nicht über die Gründe für das Kaufinteresses informiert worden. Der sich anschließende jahrelange Leerstand habe den Stadtteil zusätzlich zu den bereits bekannten Problemen geschwächt. In dem Bericht des Guardians heißt es: „ The area started to decline in the early 1990s with the city’s economic problems. But Liverpool football club accelerated the decline, by leaving good houses empty and boarded up. It wasn ́t a natural decline, it was engineered”. 

 

Auch der Kulturwissenschaftler Christian-Martin Czypull kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass der Einsatz eines “Strohmannes” den städtischen Verantwortlichen bekannt und geduldet gewesen sei, um die wirtschaftliche Entwicklung des Vereins nicht zu gefährden. Er spricht von einem “Aufruhr” der Bevölkerung und den weitreichenden Folgen: "Dem Verein wird von der lokalen Bevölkerung das Vertrauen entzogen. Die Stadt und der Sportverein rudern zurück. Trotz seines internationalen Bekanntheitsgrads sieht sich der Verein lokal und national eines Imageverlusts ausgesetzt. [...] Der Sportverein hatte erkannt, dass er in einem weit größeren Maße von seinem lokalen Umfeld abhängig ist, als es ihm bewusst war." Die oben beschriebenen Details und die Umsetzung des heutigen Anfield-Projectes sind dementsprechend als Reaktion, prozesshafte Weiterentwicklung und Einbettung des Vereinsanliegens in einen großmaßstäblichen Planungsrahmen zu verstehen.

 

Allerdings endete der Protest nicht mit der Entscheidung zur großmaßstäblichen Planung, sondern setzte sich ab dem Jahr 1999 fort: nicht alle betroffene Hausbesitzer Anfields waren zu einem Verkauf ihrer Immobilie zu bewegen. Die Verantwortlichen der Stadt Liverpool setzten in der Folge das Mittel der  „compulsary purchases“ ein, eine Form der einer Form der Zwangsenteignung gegen Entgelt, die unter Verweis auf Interessen der Allgemeinheit in Großbritan- nien angewendet kann. Hinzu kamen Verzögerungen bei Abriss und Neubau der Straßenzüge, verursacht durch die Finanzkrise im Jahr 2008, in deren Folge der Masterplan zur Umgestaltung des Stadtteils erneute Neuausrichtungen und Anpassungen erfuhr.

 

Ein entscheidender Impuls für die heutige, weitgehende Akzeptanz des Anfield-Projects durch die breite Bevölkerung wurde in den Folgejahren der Wirtschaftskrise durch eine Gruppe von Künstlern, Designern und Architekten gesetzt. Sie besetzten in unmittelbarer räumlicher Nähe des Stadions eine frühere Bäckerei, um das Gebäude vor dem Abriss zu bewahren und die Anwohner Anfields in einen planerischen und künstlerischen Schaffensprozess miteinzubeziehen. Im Rahmen der „Liverpool Biennale 2012“ wurde die Bäckerei öffentlichkeitswirksam wiedereröffnet, Touristen und Besucher durch den Stadtteil geführt. Unter dem Namen „Homebaked“ ist, betrieben durch eine Co-Operative, eine Bäckerei mit angeschlossenem Café entstanden, in der überwiegend Personen aus dem Stadtteil Anfield ausgebildet werden und arbeiten. Backkurse in den Abendstunden runden das Angebot ab.

 

Darüber hinaus strebt die Belegschaft von Homebaked langfristig den Ankauf der anliegenden Häuser an, um bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen und weitere Entwicklung des Quartiers zu begleiten. Die Kuratorin und Künstlerin Jeanne van Heeswijk war an Initiierung von Homebaked beteiligt und erläutert die Details des Entstehungsprozesses: Zu Beginn des Jahres 2010 habe sie einen „Zustand der Verzweiflung“ unter den Bewohnern des Stadtteils wahrgenommen, deren Gemeinschaftsgefühl durch die zahlreichen bereits erfolgten Umsiedlungen verloren gegangen sei. Die Situation habe sich zusätzlich verschärft, weil Inhaber kleiner Supermärkte und Läden in Anfield dazu übergegangen seien, ihre Geschäfte nur noch an den umsatzstarken Heimspiel-Tagen des FC Liverpool zu öffnen (Van Heeswijk 2017, S. 364). Als Reaktion habe man mit einer Gruppe von 20 jungen Kreativen einen Ansatz entwickeln wollen, der die Bewohner des Stadtteils miteinbezieht und eine konstruktive Debatte über den Masterplan für Anfield anregt („stimulating a community-based response“).

 

Gespräche zwischen der Initiative, städtischen Vertretern und den Investoren mit dem Ziel, Räumlichkeiten innerhalb des Projektgebietes zur Verfügung gestellt zu bekommen, seien ohne Erfolg verlaufen, bis im Jahr 2011 eine alteingesessene, familiär geführte Bäckerei in unmittelbarer räumlicher Nähe des Stadions schloss. Die Aktionsgruppe nutzte das weiterhin vom Abriss bedrohte Gebäude und initiierte unter der Federführung einer lokalen Architektin wöchentliche Diskussionsrunden zum Masterplan des Anfield-Projects und Treffen der Anwohner. Van Heeswijks Zwischenfazit: „The former bakery was turning into a site of resistance“ (Van Heeswijk).

 

Im Laufe des Arbeitsprozesses mit der Bevölkerung habe sich schnell gezeigt, dass ein nachhaltiges soziales Projekt mit Geschäftsmodell dem Gemeinschaftsgefühl und der „sozialen Gerechtigkeit“ innerhalb des Stadtteils neuen Schwung geben könnte: "For them, it was important that the bakery as a place of production should become a viable business, as this would also mean the community could generate its own resources, creating local jobs and skills. At this moment in time, the project started to advocate for wider social justice goals for Anfield, such as encouraging healthier lifestyles through good food and classes, as well as helping people get into work by offering apprenticeships and training to local people" (Van Heeswijk).

Von besonderer Bedeutung für das Gelingen des Projektes sei dabei das Gebäude als “lokale Landmarke mit großer Fensterfront” gewesen, die permanent Aufmerksamkeit geweckt habe.

 

Die Verhandlungen mit Stadt und Investoren zum Erhalt des Gebäudes endeten zwischenzeitlich erfolgreich und mündeten in einer Kooperation mit den Stakeholdern. Heute ist neben dem FC Liverpool auch die Homebaked-Co-Operative, die im Zuge der Biennale nationales und internationales Presse-Echo erzeugen konnte, Teil des Anfielder Standortmarketings.

 

Nach der Aufschlüsselung der Entstehungsgeschichte des Anfield-Projects lässt sich ein Resümee ziehen: Die Ausgangslage zeichnete sich durch eine Negativspirale der Abwertung aus, Stadtteil und Quartier schienen ihre identitätsstiftende Funktion verloren zu haben. Intranspa rente Planungen seitens des FC Liverpool und der Stadt verstärkten den Abwärtstrend in der Innenwahrnehmung. Durch das darauffolgende mediale Negativ-Echo drohte sowohl das positive Image des Fußballvereins, als auch das sich neu im Aufbau befindliche Außenbild der Stadt Liverpool Schaden zu nehmen.

 

Über die Einbeziehung eines sozial-kreativen Projektes wurde letztlich die Basis für die öffentliche Akzeptanz des Anfield-Projects gelegt, dass den Stadtteil durch bauliche Maßnahmen sozial und ökonomisch stärken soll. Das positive konnotierte Image des ansässigen Fußballvereins wird genutzt, um das flankierende Standortmarketing voranzutreiben. Der FC Liverpool wiederum wird zum Stakeholder, der sich an den Projekt-Kosten beteiligt, gleichzeitig durch die Vergrößerung von Stadion und Gelände aber seine eigenen wirtschaftlichen Bestrebungen voranbringen kann. Aussagen zum Erfolg des Projektes und der langfristigen Akzeptanz durch Anwohner und Medien können derzeit noch nicht gegeben werden, da die Bauphase noch nicht in Gänze abgeschlossen ist.

 

Literatur: 

CONN, David: Anfield (2013a): The victims, the anger and Liverpool's shameful truth.

Conn, David (2013b): Anfield landlord seeks compensation over Liverpool stadium blight.

CZYPULL, Christian-Martin (2009): Welche Zukunft hat Liverpool? Eine Stadt im Prozess urbaner Regeneration; die Neubestimmung städtischer Funktionalität und Identität durch kulturelle und ökonomische Potenziale. Zugl.: Hannover, Univ., Diss., 2009. Essen: Die Blaue Eule (Neue Anglistik, 15).

LEATHER, Philip; Nevan, Brendan; Cole, Ian; Eadson, Will (2012): The Housing Market Re- newal Programme in England: development, impact and legacy. Hg. v. Sheffield Hallam University.  

LIVERPOOL CITY COUNCIL (2018): The Anfield Project. Major Project. 

SHENNAN, Paddy (2014): A tale of two Anfields: meet some of those affected by the rebirth of one of Liverpool's oldest communities.

VAN HEESWIJK, Jeanne (2017): A bakery as a site of Resistance. In: Doina Petrescu und Kim Trogal (Hg.): The social (re)production of architecture. Politics, values and actions in contemporary practice. London, New York: Routledge Taylor & Francis Group, S. 362374.

WILLIAMS, Jordan (2018): Council approves next stages of Anfield regeneration scheme. Hg. v. Development Finance Today.