Der Liverpooler FC mag der größere, finanzstärkere Club sein und King Klopp noch so viele Wände und Fenster der Stadt zieren - der sympathischere Verein ist für mich Everton FC. Dessen Engagement im Quartier könnte langfristig auch den großen Ruhrpott-Clubs als Vorbild dienen.
Everton is doing a great job in the community - haben in den vergangenen Tagen Anwohner*innen rund ums Stadion, Wirt und Gäste in lokalen Pubs und bekennende Fußballmuffel erzählt, wann immer das Thema auf Fußball kam. Die Präsenz des Clubs im Stadtteil ist darüber hinaus auch einfach unschwer zu übersehen. Auf dem Weg zum nächsten Supermarkt liegt das Café The Peoples Hub, die Everton Free School und das Everton Football College, gebaut auf vormaligen Brachflächen.
Vor ein paar Tagen bin ich also auf einen Frühstücks-Porridge in das Café spaziert und wollte um einen Gesprächstermin bitten zu den sozialen Aktivitäten - was gar nicht nötig war, denn Neighbourhood Manager Sarah Atherton und Neighbourhood Officer Sean Melia nahmen sich spontan über eine Stunde Zeit. Beide arbeiten für Everton in the Community (EITC), die Stiftung, die das Markendach des Engagements bildet. Bereits am Namen lässt sich ableiten: Everton legt einen Schwerpunkt sich auf den namensgebenden Stadtteil, in dem noch (aber voraussichtlich nicht mehr allzu lange) das Stadion Goodison Park liegt.
Anfang 2000 wurde Everton in einem landesweiten Ranking der unterprivilegiertesten Gebiete des Landes auf Listenplatz vier geführt - der Startpunkt von gezielt lokalen Aktivitäten für die bereits seit 1988 bestehende Stiftung. Diese ist von ihrer Struktur her vereinsunabhängig aufgebaut und arbeitet zur Implementierung und Finanzierung ihrer Projekte mit einer Vielzahl an weiteren Stiftungen, privaten Spender*innen und Initiativen zusammen. Der Club selbst unterstützt EITC mit 50.000 Pfund monatlich, wovon die laufenden Kosten für die Gebäude im Stadtteil sowie vier von 120 (!) Angestellten gedeckt werden - Sarah und Sean gehören zu dem Quartett, dass aus der Gehaltsliste des Clubs steht.
Die Bandbreite und Anzahl der Projekte ist beeindruckend lang und würde in der Aufzählung den Rahmen sprengen. Allein 43 laufen derzeit, dutzende wurden in den vergangenen Jahren bereits realisiert, viele lokal verankert innerhalb der Blue Mile - so bezeichnet Sarah die acht Häuserblocks rund um Goodison Park.
So werden im Peoples Hub täglich kostenfrei Sportkurse angeboten - unter anderem Yoga, Walking Football, Fußballtrainings für Kinder und Jugendliche. Der Kursplan hängt öffentlich aus. An der staatlich anerkannten Everton Free School werden seit dem Jahr 2015 je nach Schuljahr bis zu 200 Jugendliche im Alter von 14-19unterrichtet, die aus verschiedenen Gründen als unbeschulbar auf Regelschulen gelten. Auch hierzu geht die EITC Kooperationen ein, beispielsweise mit der Liverpooler Feuerwehr. Im stiftungseigenen Magazin findet sich ein Bericht zu einem sechswöchigen Kurs, bei dem 12 Schüler*innen die Arbeit der Feuerwehr in theoretischen wie praktischen Lektionen kennenlernten. Am Ende stand eine Feier, in der die Kinder Familien und Freunden demonstrierten, wie man ein Feuer löscht oder eine Person aus einem Gebäude rettet - als Maßnahme, die Disziplin und Teamarbeit vermitteln soll und gleichzeitig der beruflichen Orientierung dienen kann.
Blue Garden in the Bloom lautet der Name eines Mikro-Projektes direkt gegenüber der Schule. Sean, der nur wenige hundert Meter weiter aufgewachsen ist, erzählt: "Vorher war hier eine Brachfläche, auf der Drogen gehandelt wurden. Die Spritzen lagen überall. Mithilfe der Kinder aus der Nachbarschaft und Freiwilligen haben wir sie umgestaltet und bisher auch keine Probleme mit Vandalismus gehabt, wie anfangs befürchtet." Stichwort Freiwillige: über 200 Volunteers haben nach Angaben des Clubs in den vergangenen Jahren 9.500 Arbeitsstunden im Quartier erbracht. Nicht nur in Gartenprojekten, sondern auch bei Street-Art- und Aufräum-Aktionen.
Ein weiteres Beispiel: 58 Menschen aus der Nachbarschaft, arbeitslos und/oder wegen Drogenhandel oder Gangkriminalität vorbestraft, arbeiten bislang an Spieltagen für den Verein - "um ihnen Selbstvertrauen zu geben und sie wieder in die lokale Gemeinschaft einzubinden", erklärt Sarah.
Die größte Aufgabe der Stiftung derzeit: Geld sammeln für The Peoples Place, ein neues Zentrum für psychische Erkrankte, das in Everton entstehen und Menschen jeden Alters aus der gesamten Stadt offen stehen soll. Hintergrund: Suizide aufgrund von Depressionen in der Merysedside-Region nehmen seit Jahren rapide zu. Über Aktivitäten wie ein Gala-Dinner unter Teilnahme des Everton-Kaders wurden bereits 300.000 Pfund der nötigen Million eingesammelt.
Das Verhältnis zum Club bezeichnet Sarah, die seit 2015 für die Stiftung arbeitet und zuvor gründungswillige Studierende an der Uni beraten hat, als offen, mit Ideen und Anregungen könne man sich jederzeit an die jeweiligen Verantwortlichen wenden. So spenden einige Angestellte der Stiftung 1% ihres Einkommens an ihren Arbeitgeber zurück. Die Spieler des Everton FC seien hiervon in Kenntnis gesetzt worden, woraufhin einige sich ebenfalls zur freiwilligen 1%-Gehaltsspende entschlossen hätten.
Zurück zur übergeordneten Ebene: Natürlich stellt sich auch jeder deutsche Bundesligist über Stiftungen und CSR-Maßnahmen seiner gesellschaftlichen Verantwortung. Der Unterschied liegt hier auf dem Fokus, der bereits über den Namen transportiert wird. Während Everton "Community" im Namen trägt und sich gezielt und mit eigeninitiierten Projekten um "sein" benachteiligtes Quartier kümmert, setzen Schalke und Dortmund mit Schalke hilft und leuchte auf (BVB) auf eine breitere Streuung der Mittel, räumlich nicht unmittelbar verknüpft mit dem Stadtteil Schalke bzw. dem Borsigplatz in der Dortmunder Nordstadt - in beiden Fällen handelt es sich aber um Gebiete, deren statistische Kennzahlen ähnlich derer Evertons als schwach einzustufen sind.
Julia Ruhland hat für ihre Masterarbeit an der Universität Regensburg im Jahr 2016/2017 eine quantitative Analyse der Corporate Social Responsibility in der 1. Bundesliga vorgenommen. 14 der 18 BuLi-Clubs zur damaligen Saison wurden untersucht, wobei Schalke hilft mit einem starken 3. Platz abschnitt. Die Stiftung besteht seit 2008, wurde zum Zeitpunkt der Untersuchung vom Club mit 400.000 Euro/Jahr und sieben Mitarbeitern ausgestattet und widmete sich insgesamt 11 Leuchtturmprojekten, wobei mit der Kumpelkiste die größte Sachspendenaktion eines deutschen Clubs darunter ist. Leuchte auf landete auf dem 10. Platz, mit drei Mitarbeitern, vier Leuchtturmprojekten und 180.000 Euro, gegründet nach der Konsolidierung des Clubs Anfang der 2000er.
Zu begrüßen ist natürlich jeder Euro und jede Form der Förderung und Investition. Darüber hinaus ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass Premier League Clubs über andere finanzielle Möglichkeiten verfügen als Bundesligisten. Und dennoch: Evertons lokaler Weg sticht als Besonders heraus und hat dem Club international Sympathien und Auszeichnungen eingebracht. So schreibt Alex Dimond im amerikanischen Sportmagazin Bleacher Report: "The club is not solely focused on local players with talent, however. Its charity arm, Everton In The Community, is recognised around the country as being one of the most proactive and extensive philanthropic operations of any Premier League club, indeed of any club around the world". Rory Smith kommt in der New York Times regelrecht ins Schwärmen, wenn er beschreibt, dass der Club "Safe Zones" innerhalb des Stadtteils geschaffen habe sich in Bereichen bewege, die andere Stiftungen aus Imagegründen meiden - und auch vor der oben beschriebenen Zusammenarbeit mit vorbestraften Menschen nicht zurückschrecke, die in Gangs und Drogenhandel involviert waren - weil diese Probleme nun einmal auf den Straßen der Stadt existierten.
Selbstredend engagiert sich darüber hinaus auch in England der lokale Rivale Liverpooler FC sozial - hat aber gleichzeitig in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, den Stadtteil Anfield erheblich zu schwächen, indem vor der Erweiterung des Stadiongeländes mithilfe von Strohmännern Gebäude aufgekauft wurden, die über Jahre leer standen und das Abrutschen des Stadtteils begünstigten. Bei der Durchsetzung seiner Umzugspläne verfolgt Everton FC im Gegensatz dazu aktuell eine transparentere, offenere Strategie.
Was in Evertons Straßen außerdem auffällt: die vielen Fahnen mit der Aufschrift "The People´s Club" - und die entsprechende Benennung der Gebäude und Projekte. Die Pläne für das neue Stadion werden gar unter dem gewöhnungsbedürftigen "The People's Project" vermarktet. Ein geflügeltes Wort, geprägt von einem ehemaligen Manager. Ursprünglich genutzt, um sich vom großen, roten Rivalen in Anfield zu distanzieren, scheint Everton gewillt, diesen Anspruch dauerhaft auch auf der Straße einzulösen.
Noch ein paar nachträgliche Worte nach dem Besuch eines Spiels im Goodison-Park am 17.08 (Everton-Watford):
Es sind kleine Details, die das soziale Engagement des Everton FC besonders und glaubwürdig machen. Auf dem Damen-WC eine 'End Period Poverty-Box, gut sortiert, mit verschiedenen Hygiene-Produkten und einer netten Aufforderung - in vielen deutschen Stadien befindet sich noch nicht einmal ein Mülleimer in den Damen-Toiletten.
Wenn man sich das Premiere League-Ticket fürs Stadion leisten kann, dann zwar sicher auch Tampons und Binden, aber hier handelt es sich in meinen Augen um mehr als eine nette Geste: ein stiller und starker Willkommensgruß in einem männerdominierten Umfeld, in dem Seximus für viele immer noch zu einem gelungenen Schenkelklopfer dazugehört.
Literatur:
RUHLAND, Julia (2016): Corporate Social Responsibility im Spitzenfußball – eine quantitative Analyse der 1. Bundesliga. Universität Regensburg, Fakultät Wirtschaftswissenschaften.