Das Anfield-Project: die Umsetzung (Teil II)

"30 years of mess" - wenn die Künstlerin und Aktivistin Jayne Lawless über das Housing Market Renewal-Programm (HMRP) spricht, wird es schnell emotional. Kennengelernt haben wir uns bei einem Besuch ihres Projektes, der Dead Pidgeon Gallery und es war bloßer Zufall, dass Jaynes Familie zugleich zu den Betroffenen in Everton und Anfield gehört, deren Häuser weichen mussten. Wo früher ihr Elternhaus stand, befindet sich heute ein Parkplatz des Liverpooler FC. 

 

Die offizielle Intention des HRMP, aufgelegt von der Labour Party: Die Stärkung des Wohnungsmarktes in insgesamt elf strukturschwachen Stadtteilen in Nord- und Mittelengland, und zwar durch Abriss und Neubau zehntausender Häuser. Jayne erzählt, dass ihre Eltern und die Nachbarschaft durch die Stadtverwaltung bereits vor knapp 30 Jahren angesprochen wurden, und damit vor der Initiierung des Programms in 2002: In dem Arbeiterstadtteil sollten die Häuser durch neue Türen und Farbe aufgewertet werden, um das Erscheinungsbild des Stadtteils zu stärken. "Man hat sich damals nicht viel dabei gedacht, aber ein merkwürdiges Gefühl war schon im Spiel. Wie ein Angriff - wir kommen jetzt mal in die armen Arbeiterquartiere und sagen euch, dass euer Zuhause nicht schön genug ist", erzählt Jayne. Der deutlich sichtbare Niedergang des Stadtteils setzte etwa zur gleichen Zeit ein, begünstigt durch den heute belegten Aufkauf von Häusern über Strohmänner durch den Liverpooler FC.

 

Die betroffenen englischen Stadtteile wurden offiziell nach Strukturdaten ausgewählt, die über eine Uni-Studie ermittelt wurden. In Anfield und Everton fanden sich letztlich  Stadtverwaltung, Investoren und der LFC als handelnde Akteure zusammen, wodurch dem Club gleichzeitig zum Ausbau seines Stadiums verholfen wurde. 

 

Jayne redet sich zu diesem Thema schnell in Rage: "Man wollte Bewegung in den Wohnungsmarkt bringen. Da in unseren Quartieren kaum Häuser zum Verkauf standen, seien sie unattraktiv und unzeitgemäß, so die Logik. Dabei ist es ganz einfach so, dass die Häuser vor 150 Jahren gebaut wurden und seitdem in Familienbesitz sind, die Leute wollten einfach nicht verkaufen. Man kannte die Nachbarschaft, fühlte sich wohl. Würde unser Haus heute noch stehen, es wäre nie auf den freien Markt gekommen, weil mein Bruder oder ich es übernommen hätten. Das hat aber nichts mit der Bausubstanz zu tun. Der Niedergang des Stadtteils hängt doch nicht am äußeren Erscheinungsbild der Häuser. Erst haben die Leute in der Krise ihre Jobs verloren, dann wurden Jugendclubs, Schulen, Schwimmbäder und Beratungszentren zugemacht und damit der Gemeinschaft geschadet, dann haben Sie unser Zuhause abgerissen und Identitäten zerstört. Top-Down-Planung als absolutes Negativ-Beispiel." 

 

Den von dem HRMP betroffenen wurden Ausgleichszahlungen zum Kauf von Häusern in anderen Teilen der Stadt angeboten - in vielen Fällen mussten für diese neue Kredite aufgenommen werden, da die angebotenen Summen bei weitem nicht reichten. Nachbarn und Freunde zogen in verschiedene Stadtteile. Es kam zu langwierigen Protesten. Viele gaben nach Jahren des Kampfes gegen die Zwangsumsiedlung auf, andere protestieren bis zum Schluss.

 

Ein Mann aus dem Stadtteil erzählt von einer älteren Lady, die sich weigerte, ihr Haus zu verlassen, selbst als die Bagger anrückten, um die Nachbargebäude in ihrer Straße abzureißen. "Sie stand auf der Schwelle ihres Hauses und zeigte ihre Faust." Wo lebt die Dame heute? "Probably under the parking lot" - perplexer Blick, Gelächter bei den Umstehenden - der schwarzer Humor der Scousers, sorry dafür, sie sei inzwischen verstorben. Auch Jaynes Mutter verstarb nur kurze Zeit nach dem Umzug, nicht im Zusammenhang stehend mit den Ereignissen. Dennoch: "Ich wünschte, sie hätte die letzten Jahre ihres Lebens einfach in ihrer gewohnten Umgebung genießen können, statt gegen den Verlust ihres Zuhauses zu kämpfen. Die Gedanken daran haben mir die Trauer über weite Strecken noch unerträglicher gemacht. Die Top-Down-Planung hat vielen Menschen den Boden unter den Füßen weggezogen."  

 

Owen Hatherley, Autor des bitterböse-ironischen Reiseführers "A guide to the new ruins of Great Britain" teilt Jaynes kritische Einstellung. In seinen Augen ist das HMRP ein "Programme of class cleansing. The new housing is not to let to those who had been cleared (...) but is allocated for the 'aspirational' in an only partially successful attempt to lure the middle classes back to the inner-cities they deserted for the suburbs." Sozialdemokraten hätten hier ihre Ideale verraten. Das Ergebnis: Vom angestrebten "gutem Design" könne man kaum sprechen. 

 

Jayne senkt bei dem Spaziergang durch die Neubausiedlungen die Stimme - "ich möchte nicht, dass sich die Menschen angegriffen fühlen, die jetzt hier wohnen, sie können nichts dafür". Die architektonische Qualität zieht aber auch sie in Zweifel: "Ein Bauarbeiter hat mir erzählt, dass es bis zu drei Tage gedauert hat, eines unserer Häuser abzureißen und die Klinker von so hoher Qualität waren, dass man sie noch gewinnbringend verkaufen konnte. Eines der neuen Häuser abzureißen, würde hingegen maximal einen Tag dauern, die Klinker sind billig." Die Preise dafür umso höher, so könne sie es sich nicht leisten, eines der Häuser in ihrer alten Umgebung zu erwerben. 

 

Was die Umsetzung des HRMP speziell in Liverpool besonders kritikwürdig macht: die Arbeiten, die sich erstmals 2008 durch die Finanzkrise verschoben hatten, sind noch immer nicht abgeschlossen. Der Liverpooler FC hat bereits zur Saison 2016/2017 seine neue Tribüne in Betrieb genommen und vor kurzem bekannt gegeben, eine zweite Tribüne ausbauen zu wollen, doch rund um das Stadion leben die Anwohner*innen seit Jahren auf einer Dauer-Baustelle, umrahmt von Bauzäunen. Zwischenzeitlich gab es Investoren-Wechsel, aber auch das angestrebte Ziel zur Fertigstellung der Masterplanung Ende 2019 wird nicht zu halten sein, von den 2016 präsentierten Perspektiven zu einem neuen Quartiersplatz für die Anwohner*innen ist noch nichts zu erkennen. Auch das vom Liverpooler FC angekündigte Hotel, das den Stadtteil stärken soll, wurde noch nicht realisiert.

 

Mitarbeiter des Clubs verweisen während einer Stadionführung auf die positiven Effekte, die der Verein für die Gesamtstadt und speziell den Stadtteil hat. "Bei einem Heimspiel sind sämtliche Hotels der Stadt ausgebucht, davon profitieren auch Einzelhandel und Gastronomie. Und vor allem die Pubs und Geschäfte im Stadtteil. Was drüben in Everton passiert, wenn der Verein umzieht, ist ja die große Frage." In der Tat - die Stadionerweiterung des LFC war unumgänglich, um den Club konkurrenzfähig zu halten, der wiederum ein bedeutender Wirtschafts- und Imagefaktor darstellt. 

 

Das HMRP ist in Liverpool ein emotional besetztes Thema, das verdeutlicht, wie stark die eigene Identität an das umgebende Quartier, Häuser und Ziegelsteine geknüpft ist - und zugleich aufzeigt, welche enorme Bedeutung der Fußball in Arbeiterquartieren hat. Gefühlt jede*r im Norden der Stadt weiß um die Vorgänge, Anheuern von Strohmännern zum Drücken der Haus-Preise durch den LFC, Befeuern der Negativspirale im Stadtteil - "people are heartbroken by the club" - heißt es einmal an der Bushaltestelle, ein anderes Mal von den Nachbar*innen, die wissen wollen, wofür die ganzen Fotos sind. Ob man daraus Konsequenzen gezogen, dem Fußball den Rücken gekehrt habe? So richtig nicht, die Reds seien doch Mittelpunkt des Lebens hier. Auch Jayne hat ihre Dauerkarte behalten: "Die Jungs auf dem Platz können nichts dafür. Und der Club tut ja auch viel Gutes über seine Stiftung." 

 

In anderen Städten soll die Umsetzung des HMRP derweil ruhiger und erfolgreicher verlaufen sein. Dave Budd berichtet für Middlesbrough von Protesten in kleinem Rahmen, alles in allem aber einem Erfolg, "nicht zuletzt, weil sich herausgestellt hat, das zahlreiche der betroffenen Häuser gar nicht mehr in Privatbesitz waren, sondern zwischenzeitlich von Unternehmen aufgekauft und vermietet worden waren." Auch ein Stadtteil in Sheffield, im Oktober auf der Reise-Route, wurde im Rahmen des HMRP umgestaltet, hier bietet sich dann der direkte Vergleich der Umsetzung der Top-Down-Planung an.

 

Literatur: 

Hatherley, Owen (2011): A Guide to the New Ruins of Great Britain. Verso Books.