Fußball versus Welterbe

Ein gigantisches Bauprojekt, das die Stadt weitaus weniger spaltet, als zu erwarten wäre: der Everton FC möchte umziehen.  Bis zum Saisonstart 2023/2024 soll ein Neubau entstehen, für dessen Umschreibung man nicht gerade an Superlativen spart. So soll das neue Stadion nach der Vorstellung einer der beteiligten Architekten Maßstäbe setzen, und zwar als "state-of-the-art stadium unlike any other on the planet". Brisant: Das auserkorene Gelände liegt rund 2,5 Kilometer westlich von Goodison Park, im Bramley-Moore-Dock, das Teil des UNESCO-Weltkulturerbes Hafenfront ist. Die Baupläne sind der Hauptgrund dafür, dass im kommenden Jahr die Aberkennung des Status droht. 

 

Hinzu kommt: Der Club, der wegen seines sozialen Engagements in den umliegenden Stadtteilen von Goodison Park international als Vorbild gepriesen wird, verlässt damit den Stadtteil. Um eine ungefähre Vorstellung davon zu erhalten, welche gravierenden und langfristigen Auswirkungen der Wegzug eines Fußballclubs für ein Quartier haben kann, sei ein Spaziergang über die Kurt-Schumacher-Straße in Gelsenkirchen empfohlen. Der Niedergang der Stadtteile Schalke und Schalke-Nord seit dem Umzug des FC Schalke 04 auf das rund 3 Kilometer entfernte Berger Feld im Jahr 1973 hat sicher auch noch eine andere Gründe. Ein Zusammenhang ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Kai Feldhaus hat das schon 2004 äußerst bildhaft in einem WELT-Artikel herausgearbeitet, aus dem ich kürzlich das Einstiegszitat für meine Masterarbeit gezogen habe:  „Schalke“, singen die Fans, „ist der geilste Club der Welt“. Ein Phänomen. Eine Religion. Nur eines nicht: ein Stadtteil von Gelsenkirchen. Längst nicht mehr. Eher ist es umgekehrt", heißt es da. Und: "Der Klub hatte sich freigeschwommen. Die Stadt ging den Bach hinunter."

 

Für das Ausbleiben einer kontroversen Debatte gibt es derweil ebenfalls mehrere Gründe. Einer scheint darin begründet zu liegen, dass Wirtschaft, Politik und lokale Presse geschlossen hinter dem Neubau stehen. Die Berichterstattung des Liverpool Echo liest sich an vielen Stellen geradezu polemisch. In Bezug auf den drohenden Verlust des Welterbe-Status: "We are in good company, mind. There are 516 sites on the UNESCO Heritage website. Four are in danger. (...) How many holidaymakers will consult that list and think "mmm, might swerve Florida this year, it might lose its World Heritage status"? Argumentiert wird dabei unter anderem, dass  sich das Dock derzeit im Privatbesitz einer Firma befinde, damit ohnehin als Welterbe bisher nicht öffentlich zugänglich sei und darüber hinaus langsam zerfalle. Der Status behindere darüber hinaus die wirtschaftliche Weiterentwicklung der Stadt. 

 

Ein zweiter Grund liegt - so mein Eindruck - in der transparenten Kommunikation und Einbindung von Fans, Anwohner*innen und Stadtgesellschaft. Während der Rivale Liverpooler FC sich nachsagen lassen muss, durch die Umsetzung seiner Ausbaupläne zum Niedergang des Stadtteils Anfield beigetragen zu haben, hat der  FC Everton frühzeitig mit Beteiligungs- und Informationsveranstaltungen begonnen - nicht nur zu den Wünschen für das neue Stadion, sondern auch zu Ideen für die Nachnutzung der frei werdenden Fläche entlang der Goodison Road. 

 

Dabei läuft die Planung nicht unter dem Label des Clubs, sondern trägt den Namen "The People's Project", was die Größenordnung widerspiegeln soll. EITC-Neighbourhood Manager Sarah: "Wir reparieren die Docks, machen sie wieder öffentlich zugänglich, schaffen neue Arbeitsplätze, locken tausende neue Touristen in die Stadt und kurbeln die lokale Wirtschaft an. Den Prognosen nach entstehen 15.000 neue Arbeitsplätze durch den Neubau - in Hotels, Handel, dem Taxigewerbe, der Gastronomie, den ausführenden Firmen, etc. Das Projekt ist zu groß, um es es unter dem Label des Clubs laufen zu lassen. Es ist ein Projekt für die Menschen Liverpools, daher der Name." 500 Millionen Pfund soll der Neubau kosten, das Stadion auch für Konzerte und Großveranstaltungen zur Verfügung stehen. Um das  Dock zu bebauen, werde zuvor mit Sand und Kies aufgefüllt, die Technik sei bewährt und gewährleiste, dass das Stadion eines Tages bei gleichzeitigem Erhalt der historischen Substanz zurückgebaut werden könne. 

 

Auf der heutigen Fläche von Goodison Park könnte eine Mischung aus sozialem Wohnungsbau, betreutem Wohnen für Senioren, Gesundheitseinrichtungen und Beratungsstellen, zb. für junge Gründer, Platz finden. "Der Everton FC trägt dafür Sorge, dass eine sozialverträgliche Nachnutzung realisiert wird und garantiert, das Gelände nicht an Investoren zu verkaufen. Alle unsere Community-Einrichtungen bleiben selbstverständlich im Stadtteil", betont Sarah. Interessant: Vor wenigen Tagen veröffentlichte der Liverpool Echo Visualisierungen einer Hotelkette, die eine Seite der Ränge des Goodison Park zeigen, eingebettet als Teil eines neuen Event-Hotels. Noch am gleichen Tag betonte der Club, kein Interesse an diesen Plänen zu hegen. 

 

Visualisierungen zum Goodison Park der Zukunft sind genauso seit Monaten öffentlich einsehbar wie die Pläne für das neue Stadion und zu schaffende Verkehrsinfrastruktur. Aufwendig Szene gesetzt und in einem begehbaren Container an verschiedenen Stellen der Stadt aufgestellt. Höhepunkt: Eine Inszenierung über Virtual Reality-Brillen. Das neue Stadion aus verschiedenen Perspektiven - von oben, seitlich, wahrgenommen von Ober-, Unterrang und dem Rasen aus. Der Container wird rege besucht, sowohl vor dem ersten Heimspiel der Saison als auch an einem Ferien-Vormittag in der Stadt herrschte großer Andrang. Das Team präsentiert dabei stolz die Ergebnisse einer eigenen Befragung mit sozialistischem Traumergebnis: Demnach 97% von 2000 Teilnehmenden den Umzug in die Docks.

 

Wer gehört zu den gegnerischen 3 Prozent? "Hauptsächlich die Pub-, Gasthaus und Gastronomiebesitzer*innen rund um Goodison Park, die um ihr Geschäft fürchten", erläutert Sarah und ergänzt sofort, dass man sich dessen bewusst und bereits im Gespräch sei. "Eine Lösung könnte darin bestehen, ihnen einen Ausschank auf dem Gelände des neuen Stadions zu ermöglichen, eine andere in Shuttle-Bussen, die der Club stellt und die an Matchdays die Fans am Gelände des alten Stadions abholen." Garantieren könne man natürlich nicht, dass hier keine Einbußen zu verzeichnen sind, "aber wir agieren transparent und haben schon von einigen Gastronom*innen gehört, dass ihre befristeten Mietverträge ungefähr im Zeitraum der geplanten Neueröffnung auslaufen, so dass hier zumindest die freie Wahl der Optionen besteht." 

 

Fest steht: der Wunsch des Everton FC nach einer neuen Heimspielstätte ist durchaus verständlich. Im und am Stadion ist der Lack ab. Mit einer Kapazität von 39.200 ist es zudem zu klein, um im Premier League-Zirkus oben mitzuspielen. Der offizielle Stadionparkplatz besteht aus Schotter. Und eine Pufferzone für einen potenziellen Aus- und Umbau existiert nicht. Reihenhäuser und Stadion stehen sich unmittelbar gegenüber. Bei der Einfahrt der Spieler reichen Anwohner*innen den wartenden Fans mitunter ein Bier aus dem Wohnzimmer raus auf den Bürgersteig. Sarah betont: "Wir haben natürlich geprüft, ob sich ein Umbau realisieren ließe, aber dafür müssten mehrere Reihen an Wohnhäusern weichen, genau wie eine Schule, was für uns nicht in Frage kam."  

 

Ende des Jahres soll der Bauantrag für die Docks gestellt werden. Im Blick zu behalten, ob sich in den kommenden Monaten noch eine Gegenbewegung formiert, bleibt spannend.