Stopover: Leicester. Stadt des Fußballmärchens

Um zu verdeutlichen, wie stark sich Fußball auf das Image von Städten auswirkt, gibt es wohl weltweit kein besseres Fallbeispiel als Leicester. Da die 350.000 Einwohner-Stadt nur eine knappe Zugstunde von Milton Keynes entfernt liegt und ich dringend eine kleine Kommunikationspause nach den vielen intensiven Gesprächen der Vorwoche benötigte, ging es also für zwei Nächte in die englischen Midlands.

 

Warum nach Leicester? Kleiner Exkurs zum Thema Fußball und städtisches Image (Auszug Masterarbeit): 

 

Für die Herkunftsregion sind Fußballvereine wichtige Imageträger. Die Geschichte der Clubs, ihre Selbstdarstellung, ihre Mythenbildung und ihre Inszenierung im sportlichen Showgeschäft vermengen sich mit der Wahrnehmung der Region. Die Identifizierung erfolgt teilweise von außen, teilweise wird sie aktiv von Vereinen und regionalen Akteuren gestaltet.

 

Als Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit lässt sich hier das englische Leicester heranziehen. Der Industriestadt in den Midlands wurde über die Landesgrenzen hinaus breite Aufmerksamkeit zuteil, nachdem der ortsansässige Verein Leicester FC in der Saison 2015/2016 überraschend die Meisterschaft der englischen Premier League als höchster Spielklasse errang. Zwei Jahre zuvor hatte der Club noch in der Zweiten Liga gespielt, das Budget des Vereins galt zum Zeitpunkt des Titelgewinns als vergleichsweise gering. Die spanische Zeitung La Vanguardia titelte: "Der unglaublichste Meister. Der Erfolg von Leicester ist eine der größten Überraschungen in der Geschichte des Sports", die italienische Gazzetta dello Sport vermeldete „eine weltweite Heldentat“und die der Süddeutschen Zeitung titelte „Das Wunder von Leicester“. Der Erfolg von Leicester FC mündete folglich in einem breiten, positiven Medienecho und brachte den Namen der Stadt in die Schlagzeilen.

 

Der Lokaljournalist Dave Owen führt in der örtlichen Tageszeitung Leicesters die im Jahr 2016 um eine Million gestiegenen Touristenzahlen in Stadt und der umgebenden Region dementsprechend direkt auf den sportlichen Erfolg des Vereins zurück. Dabei bezieht sich Owen auf Aussagen des Bürgermeisters der Stadt, Peter Soulsby, der mit den Worten zitiert wird: „With the world’s media and new fans flocking to Leicester for thevictory parade in May, last year, and the additional draw of the Champions League group stage games, it’s not surprising that 2016 was a bumper year for visitors“. Der Geograph John Bale betont ebenfalls, dass Fußball zum einen Städten eine Bühne biete, deren Namen ansonsten kaum bekannt wären und zum anderen Orte kollektiver Identität schafft: „But football does not serve only to project a place to people who would otherwise never hear its name mentioned; it also provides a potent medium for collective identification with a place”.

 

In der Tat: der Taxifahrer, die Studentin im Café auf dem Campus, die Menschen im Take-Away um die Ecke - alle betonen, dass der Strom der Touristen, den der Titel-Gewinn Leicester bescher hat, auch drei Jahre später ungebrochen ist. Dave, der Vermieter meiner AirBnb-Unterkunft, ist in Leicester geboren und liebt seine Stadt. Er berichtet, dass seine zwei vermieteten Zimmer seit 2016 nahezu ausgebucht seien und er sich sicher ist, dass der Image-Gewinn durch Fußball hierzu maßgeblich beiträgt: "Ich habe viele Gäste wie dich. Am Anfang konnte ich es gar nicht glauben. Da kamen Reisende aus China oder Amerika. Als ich sie gefragt hab, was sie mitten in der Woche in Leicester tun, war die Antwort 'wir wollen die Stadt sehen, die den Titel gewonnen hat.' Tickets für ein Spiel hatten sie gar nicht, die kommen wirklich nur her, um sich mal die Stadt anzuschauen."

 

Daves Zimmer war es darüber hinaus, dass den finalen Ausschlag gegeben hat, das Zugticket zu lösen. Auf der Suche nach einer schönen, bezahlbaren Unterkunft war ich auf seinen umgebauten Wasserturm gestoßen, der ein wenig Quadratmeter kleines Gästezimmer beherbergt - der gemütlichste, kleinste und zugleich stylischste Ort, an dem ich je übernachtet habe, preislich mit dem Dorm-Zimmer eines Hotels zu vergleichen. Dave hat hierfür seine eigene Wohnung verkleinert und das ehemalige Badezimmer umgebaut. Bezahlbare und ansprechende Übernachtungsmöglichkeiten in außergewöhnlichen Gebäuden - meiner Meinung nach etwas, das im Ruhrgebiet noch viel zu selten zu finden. 

 

Leicester jedenfalls ist spannend - die Straßen sind belebt, das gastronomische Angebot ist groß und an vielen Fassaden finden sich Murals, oft auch mit Fußballbezug. Gleichzeitig sieht man der Stadt an, dass sie durchaus schwere Zeiten durchlebt hat und weit von Begriffen wie Gentrifizierung entfernt ist. Was mir auch ins Auge gefallen und damit zum Recherchieren bewegt hat: in Leicester vielen sich viele Religionen und Kulturen zuhause und haben sich Stadträume angeeignet. Bei der anschließenden Recherche bin ich auf einen Artikel von Thorsten Meise für die Bertelsmann-Stiftung gestoßen, in dem Leicester als Leuchtturm bezeichnet wird, unter der Überschrift "Vielfalt aktiv gestalten".

 

So gilt Leicester als Vorbild für multikulturelles Zusammenleben in Großbritannien. Knapp 40% der Einwohner*innen sind im Ausland geboren, der überwiegende Teil in Indien und Pakistan sowie Nordafrika. Gemäß der letzten Statistiken gehört Leicester zu einer der wenigen "majority-minority-cities", in denen die "weiße" Bevölkerung nicht mehr in der Mehrheit ist. Dies trägt laut der Bertelsmann-Stiftung zum Reiz der Stadt bei, so wird hier das größte hinduistische Lichterfest außerhalb Indiens gefeiert, "a street Party like no other", laut Tourismuswerbung. 

 

Bereits seit den 1980er-Jahren bemühe sich die Stadt,  Minderheiten stärker in die Politik einzubinden. 2004 wurde hierzu erstmals eine städtische Strategie festgeschrieben (Community Cohesion Strategie). Diese zielte unter anderem darauf auf, Programme zur Begegnung für Kinder und Jugendliche aufzulegen.

 

Thorsten Meise trägt in seinem Artikel zusammen, dass der Stadtrat bereits mehrfach von der Regierung für seine Integrationsbemühungen und Programme zum Abbau religiöser und kultureller Spannungen ausgezeichnet wurde und es schafft, über sportliche Aktivitäten auch schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen einzubinden. Dabei verweist er auch auf die beindruckende Zahl von 37% an Mitarbeiter*innen mit Migrationshintergrund bei der Stadtverwaltung - nicht ohne auf die weiterhin bestehenden Probleme hinzuweisen. Arbeitslosigkeit und Armut seien viel zu häufig an die Relgionszugehörigkeit gekoppelt, die Teilung von Arm und Reich in Stadtvierteln nehme zu. Dennoch: der Ausflug nach Leicester hat Spaß gemacht und das städtische städtische Strategie-Papier zum Umgang mit Bevölkerungsgruppen ist sicherlich in einer ruhigeren Minute noch ein paar Blicke wert.

 

Literatur: 

BALE, John (1999): Identität, Identifikation und Image: Der Fußball und seine Verortung im Neuen Europa. In: Siegfried Gehrmann (Hg.): Fußball und Region in Europa. Probleme regionaler Identität und die Bedeutung einer populären Sportart; Münster: Lit-Verl. (Sport, Bd. 27), S. 281–298.

BALE, John (2001): Sport, space, and the city. Caldwell, New Jersey: Blackburn Press
B
ALE, John (2007): The changing face of football. Stadiums and communities. In: Soccer &

Society 1 (1), S. 91–101. DOI: 10.1080/14660970008721251.