Mit "Invisible Women - Exposing Data Bias in a world designed for men " ging es mir wie mit Hull: nach mehrfacher Empfehlung führte kein Weg mehr daran vorbei: Das rund 400 Seiten starke Sachbuch der Britin Caroline Criado Perez ist im Frühjahr 2019 in England erschienen, kletterte die Bestseller-Listen hoch und wurde von allen großen Medien des Landes aufgegriffen - absolut zu Recht.
Die sich selbst als Aktivistin und Feministin bezeichnende Autorin, die in den vergangenen Jahren unter anderem erfolgreich dafür gekämpft hat, dass die Bank of England weibliche Konterfeis auf ihre Banknoten druckt (die Queen war die einzige Frau, bis 2017 Jane Austen hinzu kam), hat eine beeindruckende Sammlung an Studien aus aller Welt vorgelegt, die belegen: es existieren noch immer schockierend große und umfangreiches Datenlücken in allen Bereichen des Lebens, die Frauen bestenfalls in Alltag und Beruf behindern und schlimmstenfalls tödliche Folgen haben können.
Von modernen Smartphones, die in Bezug auf die durchschnittliche Handgröße von Frauen zu groß sind, um von Ihnen mühelos bedient zu werden. Bis hin zu den europäischen Crash Test-Vorgaben, die die Benutzung eines Dummies vorschreiben, der nach den durchschnittlichen Größen und Proportionen eines Mannes gebaut wurde. Perez: "There is one EU regulatory test that requires what is called a fifth-percentile female dummy, which is meant to represent the female population. Only 5% of woman will be shorter than this dummy. But there is a number of data gaps. For a start, this dummy is only tested in the passenger seat, so we have no data all all for how a female driver would be affected (...). And secondly, this female dummy is not really a female. It is just a scaled-down male dummy." Leser*innen lernen darüber hinaus, dass bis heute Medikamente existieren, deren Nebenwirkungen lediglich in Bezug auf männliche Köper erfasst wurden.
Regelrecht gruselig wird es in Bezug auf kulturelle Stereotype, die im Bereich der künstlichen Intelligenz fortgeschrieben werden: So habe Londa Schiebinger, eine Professorin der Stanford University, mit der Übersetzungssoftware von Google gearbeitet, um ein mit ihr geführtes Interview vom Spanischen ins Englische zu übersetzen - mit dem Ergebnis, das die Software wiederholt männliche Pronomen verwendet hat, um ihre Aussagen wiederzugeben. Dies passierte, obwohl der spanische Text deutlich auf die weibliche Form verwies, beispielsweise durch den Begriff profesora. Türkische Texte mit genderneutralen Pronomen werden von Google ebenfalls hinaus stereotyp übersetzt - er ist Doktor, sie ist Krankenpflegerin. Und warum scheint eigentlich in Stein gemeißelt, dass ein Architekturportfolio in A1 gestaltet wird? Eine Größe, die mühelos unter den Arm eines Durchschnittsmanns geklemmt werden kann, was bei Frauen wiederum nicht der Fall ist.
Interessant sind auch Perez Gedankenspiele und Hinweise zu Verkehrsinfrastruktur und gendergerechter Planung, beginnend mit einem Fallbeispiel aus Schweden, wo die Verantwortlichen von Karlskoga im Jahr 2011 gezwungen waren, sämtliche Regularien und Vorgänge hinsichtlich von Gender und Teilhabe zu prüfen. Was dazu führte, dass dort nicht mehr Autobahnen, sondern Fußwege Vorrang bei der Schnee-Räumung hatten. Was wiederum zu nachgewiesenen Einsparungen im hauptsächlich Frauen auf dem Fußweg zu KiTa, Schule oder unbezahlter Care-Arbeit betroffen sind.
Und was würde passieren, wenn die Verkehrsplanung - eine Branche, in der noch immer überwiegend Männer arbeiten - bei der Erstellung von Liniennetzen beherzigt, dass die Bewegungsmuster von Frauen sich teils deutlich von denen von Männern unterscheiden? Während der Großteil der Männer lineare per ÖPNV reist - aus beruflichen Gründen vom eigenen Zuhause zum Hauptbahnhof - durchqueren Frauen im täglichen Leben mehrere Stadtteile, etwa um Kinder zur Betreuung oder Schule zu bringen, einzukaufen oder Angehörige zu pflegen. Die Netzpläne der meisten Verkehrsunternehmen bilden dies nicht ab, wie Perez unter Berücksichtigung der rudimentären Datenlage aufzeigt, sondern fokussieren sich auf sternförmige, auf den Hauptbahnhof zulaufende Linien, die somit nicht auf die Bedürfnisse aller Geschlechter zugeschrieben sind. Hinzu kommen Anstöße wie die Verlegung von Haltestellen um einige hundert Meter, damit sie sich beispielsweise vor belebten Restaurants statt dunklen Parkeingängen befinden und das Sicherheitsgefühl von Frauen steigern.
Manche Erkenntnisse so simpel wie augenfällig: So zieht die Autorin eine Studie des kanadischen International Council of Nurses heran, in der Krankenpflegerinnen davon berichten, dass sie sexuelle Übergriffe gar nicht erst melden, weil sie so häufig vorkämen - was zum einen fehlerhafte Datensätze und ein entsprechendes Bewusstsein mit sich bringt, zum anderen anregt darüber, über Architektur nachzudenken: Warum sind Krankenhäuser stets nach dem gleichen Muster aufgebaut und zeichnen sich durch lange Flurtrakte auf? Könnte ein kreisförmiger Aufbau eine Alternative sein?
Perez macht in ihrem Buch immer wieder deutlich, dass ihre Punkte nicht als aggressive Anklagen zu verstehen, sondern sich die historisch gewachsene Benachteiligung von Frauen größtenteils unbeabsichtigt fortsetzt - und spricht durchaus in schwarzem britischen Humor von unserem "guten alten Freund, dem Mann als Default Human". Hin und wieder flechtet sie auch private Anekdoten ein, etwa von Datingpartnern, die sich aufgrund ihrer Verständnisresistenz als beziehungsuntauglich erwiesen. Es gelte, Paradigma, Sprache, Architektur und vor allem Wissenschaft und Forschungsergebnisse auf den Prüfstand zu stellen.
Unter dem Titel "Unsichtbare Frauen - wie eine von Daten beherrschte Welt die andere Hälfte der Bevölkerung ignoriert" wird das Buch ab 15. Februar 2020 auch in Deutsch erhältlich sein. Bestellung über den lokalen Buchhandel wärmstens empfohlen!