Aufbruch in Hull: der Tenor ist positiv

Zwei Jahre sind vergangen, seit Hull den Titel UK Capital of Culture trug. Zu früh, um die langfristigen und objektiven Auswirkungen zu messen - genau richtig für eine subjektive Einordnung mit genügend zeitlichem Abstand durch die jeweiligen Gesprächspartner*innen vor Ort. 

Victoria Bisset ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am "Culture, Place and Policy"-Institut der University of Hull und forscht für ihre Doktorarbeit zum Einfluss von Kunst auf Stadtentwicklung und Regeneration. Sie hat an einer ersten Evaluation-Studie zu 2017 mitgearbeitet, die in diesen Tagen öffentlich vorgestellt wird und eine Vielzahl an Zahlen und Fakten enthält, die auf den Erfolg des Programms hinweisen. Vor allem kann sie kurz und knapp die Hintergründe des Titels zusammenfassen: "Der Titel der europäischen Kulturhauptstadt für Liverpool in 2008 war ein voller Erfolg, das hat auch die Evaluation zum 10-Jährigen im vergangenen Jahr ergeben. Die Idee eines nationalen Ablegers ist als Reaktion entstanden, an der Entwicklung des Programms waren die Macher*innen des Liverpooler Programms beteiligt. Der Titel verschleiert, worum es hier eigentlich geht, denn die Städte bewerben sich nicht, sondern werden gezielt ausgewählt und erhalten so Zugang zu den bereitgestellten Fördertöpfen. UK Capital of Culture ist ein reines Regenerationsprogramm unter dem Label der Kultur." 2013 startete dementsprechend Londonderry in Irland als Titelträger, 2017 folgte Hull, 2021 richtet Coventry das Großereignis aus. 

 

Victorias Fazit: "The circus came to town. 25 Millionen Pfund für Infrastruktur, den Umbau von Museen und Stadtentwicklung, eines der größten und ambitioniertesten Entwicklungsvorhaben des Landes. Ökonomisch hat das Jahr für Hull durchaus Sinn gemacht. Seitdem hat auch die freie Kulturszene es einfacher, die Grenzen haben sich verschoben, innerhalb der Stadt ist viel plötzlich mehr möglich." Victorias größer Kritikpunkt: "Das 100-köpfige Team, eine eigens für die Aufgabe gegründete Gesellschaft, war so ambitioniert, dass es der freien Szene in unserer Stadt regelrecht geschadet hat. In den 365 Tagen haben sie 2700(!) kleine und große Events organisiert. Man konnte und musste sich täglich entscheiden, was auch die Einwohner*innen genossen haben. Jetzt steht die lokale Szene regelrecht unter Druck, denn die Leute haben jetzt eine entsprechend hohe Erwartungshaltung an die Anzahl der Ausstellungen und Veranstaltungen in der Stadt." Außerdem: "Keep the momentum going!" Auch die Verwaltung in Hull stehe unter Druck, weitere und kluge Entwicklungsprojekte anzustoßen, derzeit stagniere es aber eher wieder.

 

Adele Howitt ist die Inhaberin des Studios Seven Eleven an der Humber Street in Hull. Sie ist sehr zufrieden mit dem Großereignis, das es geschafft hat, nicht nur Tourist*innen anzusprechen, sondern vor allem auch die Menschen in der Stadt mitzunehmen. "Alle Altersstufen, alle Level von Verständnis und Fähigkeiten, die Bevölkerung hat sich interessiert und mitgemacht. Empowerment durch Kunst! Alle waren und sind hier sehr stolz auf das Programm, es ist angekommen und prägt das neue Selbstbewusstsein der Stadt." In der Tat fällt beim Flanieren auf: an fast allen Türen von Restaurants, Shops und sogar kleinen Büdchen hängt noch immer ein blauer Marker mit dem stolzen Slogan "Wir sind Kulturhauptstadt".

 

Als Künstlerin hatte Adele  2017 mit Blick auf ihren Umsatz das stärkste Jahr seit Beginn ihrer Selbstständigkeit zu verzeichnen. Genau wie Dom Heffer, der ebenfalls ein Studio an der Humber Street besitzt - und in den dortigen alten Lagerhallen des ehemaligen Fruchtmarktes schon arbeite, bevor der gesamte Bereich über die Fördermittel instandgesetzt wurde. Die Kehrseite: Ein drastischer Umsatzeinbruch in den vergangenen Jahren, aber darauf waren wir ja vorbereitet." Paul Collins, ebenfalls freischaffender Künstler spricht von einer "Honeymoon period", die nun vorbei sei und vor der alle profitiert hätten: der öffentliche Raum, der Bodenbelag, das Kanalsystem in der Innenstadt, da wurde endlich investiert. Und nach Jahren des Wartens gibt es endlich schnelles Internet in der Stadt, woraufhin sich unmittelbar daran anschließend ein IT-Cluster in einem neuen Bürogebäude an der Hafenfront entwickelt hat. 

 

Was alle verbindet: ein Lob an die Stadtverwaltung und das Organisator*innen-Team der Großveranstaltung - und das obwohl, ein üblicher und länderübergreifender Vorwurf bei derartigen Formaten, die lokale Szene nicht direkt in die Planungen integriert wurde. Sie profitierte über Besucher*innen, aber kaum über abrufbare Fördertöpfe für eigene Projekte. Aber: "Bei der Suche nach Volunteers hat man sich richtig Mühe gegeben und so letztlich die breite Verankerung und Akzeptanz erzeugt. Es wurde in allen Stadtvierteln gesucht, die Freiwilligen aller Altersstufen wurden ausgiebig geschult und haben richtig Spaß entwickelt. Das Netzwerk lebt weiter, die Leute wollen weitermachen, besetzen zum Beispiel noch immer den Infostand im Hauptbahnhof", erzählt Jayne Jones, Direktorin der FERAL Art School. Victoria hebt hervor: "Es haben sich seitens der Stadt die richtigen Persönlichkeiten des Projektes angenommen, die wirklich etwas bewegen wollten und Visionen im Kopf haben." 

 

Adele verweist zum Abschluss noch darauf, dass die Humber Street so besonders sei, weil sich ausschließlich lokale Galerien, Geschäfte, Restaurants und Bars befinden: "Keine Ketten. Der Friseur, das Brautmodengeschäft, der Vintage-Laden, unsere Galerien, alle lokal verankert, erst ermöglicht durch die Aufmerksamkeit durch Kulturhauptstadt und die Investoren in diesem Quartier, die nach vielen Vermittlungsgesprächen verstanden haben, dass auch sie große Vorteile haben, wenn sie den Laden im Erdgeschoss für einen unterdurchschnittlichen Preis vermieten. Gewinne werden eingefahren über die oberen Etagen, die als teure Büroflächen oder Eigentumswohnungen vermarktet werden." An dieser Stelle erinnert die Entwicklung in Hull an das, wofür Tristan Brady-Jacobs im Liverpooler Baltic Triangle kämpft, wo eher von Gentrifizierung als Regeneration gesprochen wird. Wichtig sei außerdem, die Balance zu halten zwischen Einzelhandel und Gastronomie - "Cafés und Restaurants sind häufig keine langfristigen Mieter, wenn es mal nicht läuft, sind die ruckzuck weg" und Social Media nicht zu vernachlässigen. "Gerade junge Menschen werden über Empfehlungen in sozialen Netzwerken und bei Instagram auf das Angebot in der Humber Street aufmerksam".

 

Für mich hat sich der Ausflug nach Hull mehr als gelohnt. Die Eindrücke und die vielen Gespräche, die sich an dieser Stelle in ihrem Umfang nur schwer abbilden lassen, hallen noch nach, genau wie die selbst an einem Dienstagmorgen belebte Markthalle, die Gespräche mit dem Hostelbetreiber Glenn und die große Gastfreundschaft - special thanks to Josie, Paul and Dom!