Wenn Tristan Brady-Jacobs erzählt - über seine Arbeit als Community Artist, Liverpools working class culture und Kartografie des städtischen nach alternativen Parametern - könnte man ihm stundenlang zuhören. Bei unserem ersten Termin ist es bei dreien geblieben. Gepaart mit dem festen Vorsatz, die Konversation schnellstmöglich in Tristans HOBO-Kiosk im Baltic Triangle fortzusetzen, einem ehemaligen Industrie-Quartier, in dessen Lagerhallen sich Bars und Start-Ups angesiedelt haben und das unter entsprechend hohem ökonomischen Druck steht. Gegenüber des Kiosks, der eigentlich ein liebevoll eingerichteter Keller-Pub voller Bilder, Puppen, Retro-Möbeln, detailreicher Tapeten und Kuriositäten ist, kündigen Plakate auf dem Bauzaun ein "Hotel in Bestlage an".
Tristan stammt aus Doncaster und ist in einem middle class-Haushalt aufgewachsen. Ein Umstand, der ihm genau wie sein präziser BBC-Akzent an manchen Stellen des Gesprächs fast unangenehm erscheint. Nach einem Studium in Kunst und Theaterdramaturgie kam er 1982 nach Liverpool und beschreibt den damaligen Zustand der Stadt als "poor, collapsing, declining and dark". Zumindest oberflächlich, den gleichzeitig habe die Stadt auch einen Charme versprüht, den Tristian als "bohemian and artistic" beschreibt, vielleicht ähnlich zum New York der 1960er und 70er-Jahre.
Drei Tage nach seiner Ankunft lernte er Delia kennen, seine große Liebe, mit der er in den Folgemonaten begann, arbeitslose Jugendliche der working class in Theater und Dramaturgie zu unterrichten. Damals in vielerlei Hinsicht ein Novum: das Geld kam von der Regierung Thatchers, die Programme aufsetzte, deren Teilnehmer offiziell nicht mehr als arbeitslos galten. Dass working class-kids plötzlich "Kunst" kreieren sollten, sei vielen suspekt vorgekommen. Und ein voller Erfolg gewesen - viele der Jugendlichen von damals seien bis heute als Filmemacher und Schauspieler aktiv, hätten über das Programm ihren Lebensweg, Zufriedenheit, Erfolg und mitunter auch ihre Sexualität gefunden ("Ich möchte mich nicht wie so viele in Erzählungen verlieren, dass früher alles besser war. In einer Zeit zu leben, in der Trans-Freunde offen in perfekten Beziehungen leben können, macht mich verdammt glücklich").
Bis heute das prominenteste Beispiel für die working class-culture Liverpools: die Beatles. Auch wenn insbesondere Ringo heute in der Stadt verrufen sei, weil er sich nicht mehr so recht zu seiner Kindheit im Arbeiter-Bezirk Dingle bekennen.
Tristans Leitsätze als Performance-Künstler, Street-Artist, Visual Jockey und Grafiker: Kunst gehört allen und wird auf der Straße erzeugt. Kultur ist da, wo Gemeinschaft entsteht. Früher waren das die Docks, Waschküchen und Fabriken, heute die Spielplätze, Pubs und Straßenecken. Die jüngere Entwicklung Liverpools sieht er kritisch: "There is more visible health, but a cultural poverty". Den Anstieg von psychischen Erkrankungen thematisiert er beispielsweise im direkten Bezug zur steigenden Anzahl von Single-Apartments.
Künstler sollten Gehör finden in der Stadtentwicklung, so seine Forderung. Die er mit dem Skizzieren eines alternativen Business-Plans illustriert: Ein Dreiklang aus Gewinn, sozialer und kultureller Wirkung. Welche Effekte hätte es für eine Stadt, wenn Investor*innen und Banken künftig gezwungen wären, alle drei Kriterien miteinzubeziehen? Diese Frage hat er bereits gelegentlich gestellt bei Unternehmer*innen, die im Baltic Triangle investieren wollen und sich dabei auch an den bestens vernetzten 60-Jährigen wenden. Die Antwort bestehe meist aus irritiertem Schweigen.
Tristan kennt Eigentümer*innen und Strukturen, als Pub-Besitzer darüber hinaus die jeweils neusten Rezepte der Gerüchteküche. Während des Gesprächs klingelt wie zum Beweis das Telefon, ein Ladeninhaber benötigt ein Rat hinsichtlich seines Mietvertrags. Auch unterstützt Tristan Firmen seit Jahren bei Corporate Responsibility-Veranstaltungen, die die Arbeit mit Kindern zum Schwerpunkt haben - "ein Geben und Nehmen, denn so gelingt es mir, an Räumlichkeiten oder Materialspenden für Aktionen im Quartier zu kommen."
Natürlich sei auch sein Kiosk ein kapitalistisches Produkt, aber eines mit "sozialem und kulturellem Ansatz", ein Ort für die Gemeinschaft, gemäß seines alternativen Modells. Und eines, dessen Gewinn in der Stadt bleibt. Guter Kapitalismus quasi. Eröffnet im Baltic Triangle ein neues Start-Up, profitierten davon die Werbeagentur, die Druckerei und das inhabergeführte Café um die Ecke, das Geld bleibe in der Stadt. Bei einem Einkaufszentrum oder Vergnügungskomplex lande der Profit im Zweifelsfall auf einem Konto auf den Cayman-Inseln - eine simple Logik, die viel zu oft aus dem Blickwinkel gerate. Zum Abschluss regt er noch Nutzung alternativer Mapping-Methode zur Erfassung des städtischen Status Quo an: dem kartographieren von Läden und Orten nach dem Dreiklang Geld, Soziales und Kultur.